/ Zurück in die Zukunft!

Digitalagenturen müssen sich weiterentwickeln und können dabei viel von James McKinsey lernen

Was waren das noch für Zeiten: Vor 20 Jahren standen Digitalagenturen für Zukunft und waren begehrte Gesprächspartner. Die Nachfrage nach ihren Dienstleistungen war immens, das Geschäft brummte, neben den klassischen Werbeagenturen entstand eine ganz neue Kategorie. Die CEOs der aufstrebenden Talentschmieden rangierten in den Medien häufig auf Augenhöhe mit den Top-Managern der Wirtschaft und setzten die Themen.

Mittlerweile haben sich die Verhältnisse massiv verändert. Die meisten Digitalagenturen haben ihren herausragenden Status eingebüßt. Ihre Kerndienstleistungen werden zumeist als austauschbare Standardware angesehen. Die lässt sich einfach vergleichen, wird gerne in Einheitstarife gepresst und steht unter Preisdruck – die brutale Gesetzmäßigkeit des Marktes. Viele Agenturen hadern mit dieser Situation und erleben regelrechte Sinnkrisen.

Was ist da passiert? Das Alleinstellungsmerkmal, Expertise beim Zukunftsthema Digitalisierung zu bieten, hat sich verbraucht. Die immer noch verhältnismäßig jungen Digitalagenturen zehren nicht mehr vom Vorteil des Vorreiters, sondern müssen sich an den Regeln für ökonomischen Erfolg orientieren, die seit 100 Jahren gültig sind. Lange Zeit glaubte man in den Agenturen nicht, sich mit klassischen Management-Prinzipien auseinandersetzen zu müssen – man erfand ja gerade alles neu, wozu Wissen aus Lehrbüchern? Jetzt sollten sie dringend umdenken.

Ausgerechnet James McKinsey?

Eine richtungweisende Leitfigur hat die Prinzipien des Erfolgs wesentlich geprägt und in seinem Unternehmen umgesetzt: James McKinsey. Von ihm können Digitalagenturen viel lernen.

Ausgerechnet McKinsey, werden nun viele sagen. Sein Name steht für radikale Effizienzprogramme, verbunden mit Massenentlassungen als Konsequenz kühler Analysen. Sogar Morddrohungen soll er deswegen erhalten haben. Da gehen Agenturleute, vor allem wenn sie nicht BWL-sozialisiert sind, schnell auf Distanz.

Zudem hat McKinsey den Geist des klassischen Beratungsunternehmens geformt: zahlengetrieben, regelorientiert, uniform. Zur DNA der Werbeagenturen hat es immer gehört, sich gerade davon abzusetzen und Offenheit, Kreativität und Spontaneität zu propagieren. Bei den Digitalagenturen sieht es zwar etwas anders aus, weil Technologie-Knowhow und operative Orientierung für einen gewissen Kulturwandel gesorgt haben. Aber natürlich verstehen sich die meisten ebenfalls als Agentur. Und im zunehmenden Wettbewerb mit den Beratungen versuchen sie, diese Karte zu spielen: Bahnbrechende Ideen, so betonen sie, entstünden nicht aus systematischem Denken. Für Kreativität brauche man Menschen, „die in einem reinen Consulting-Umfeld veröden würden“, sagte kürzlich Publicis-Chairman Horst Wagner in „Horizont“.

Sollte man sich also ausgerechnet die Arbeitsweise der Beratungen zum Vorbild nehmen, von denen man sich eigentlich abgrenzen will und muss?

Zwei Bemerkungen dazu.

Erstens: Die Praxis in den Beratungen stimmt längst nicht mehr mit dem Klischee überein. Dort bestimmen nicht mehr gleichgeschaltete Zahlenfetischisten das Bild.

Zweitens: Agenturen können von McKinsey lernen, ohne ihre eigenen Prinzipien zu verraten. Sie können das Beste beider Welten haben.

Aber der Reihe nach. Was ist überhaupt so beeindruckend an James McKinsey?

Werkzeuge und Methoden als wichtige Basis

Gemeinsam mit Marvin Bower ist ihm etwas Außergewöhnliches gelungen: Die beiden haben dem 1926 gegründeten Beratungsunternehmen Werte und Kernprinzipien vermittelt, mit denen McKinsey ein beispielloser Aufstieg gelungen ist. Auch Skandale der Führungsriege, Anfeindungen und häufig geäußerte Kritik an der Wirksamkeit der Beratungsleistungen haben das Fundament nie beschädigt. McKinsey hat Kernprinzipien aufgestellt, die bis heute universell und zeitlos sind. Sie gelten für Beratungsunternehmen genauso wie für Agenturen.

McKinsey lehrte Rechnungswesen an der Universität von Chicago und gründete das nach ihm benannte Unternehmen in den 20er-Jahren. Er transformierte Buchführung in eine Managementmethode und lehrte amerikanischen Unternehmen die vorausschauende Budgetierung von Kosten und Umsätzen, was damals eine unbekannte Managementaufgabe war. McKinsey war ein brillanter Analytiker. Sein Zahlenverständnis war die Basis, um Probleme von Unternehmen zu identifizieren, einzugrenzen im Anschluss zu lösen. Er entwickelte eigene diagnostische Werkzeugen und Methoden, die zur Blaupause für die Führung vieler Unternehmen wurden. „Facts are the global management language“, lautete sein Credo. Analytik wurde zentraler Bestandteil der DNA von McKinsey.

Diagnostische Werkzeuge und Methoden sind eine wichtige Basis für einheitliche Standards und hohe Qualität. Sie sind auch Hilfsmittel, um Wissen zu erzeugen. James McKinsey und seine Nachfolger haben in vielen internen Publikationen und Büchern Standards und einheitliche Methoden propagiert. Zum Teil resultierte das in Buchprojekten mit millionenfacher Auflage. So wurde erzeugtes Wissen bewahrt und für die Vermarktung der Beratung wieder eingesetzt.

An dieser Stelle greift der besagte Einwand der Agenturvertreter, dass Methoden und Analytik keine Garantie für „große Ideen“ sind. Natürlich: Sie entstehen in den Köpfen begabter Menschen. Aber Einfallsreichtum, Intuition und Empathie können durch Methoden wie zum Beispiel Design Thinking angeregt werden. Diese sind eine sinnvolle Basis für kreative und analytische Prozesse, solange sie nicht den Geist einschränken. Bei näherer Betrachtung handelt es sich also um einen Schein-Widerspruch. Man verrät die Agenturkultur keineswegs, wenn man sich für Methoden öffnet.

Weiterentwicklung durch Wissensgewinnung

Bei McKinsey gehörte auch immer zu den Kernprinzipien der Unternehmung, das Wissen aus gewonnen Projekten zu bewahren, um neue Projekte zu akquirieren. Zugleich sorgt die Verbreiterung der Wissensbasis für die Schaffung neuer Kompetenzen („Upskilling”), die eine Weiterentwicklung des Serviceangebotes gewährleisten. Neues rechtfertigt hohe Honorare, Bewährtes wird schnell zur Standardware.

Kreativ- und auch Digitalagenturen verlassen sich zu stark auf ihre kreative Reputation, die sie gern mit Preisen bei Kreativwettbewerben belegen. Leider jedoch wird Kreation von Kunden immer mehr als austauschbare Standardware angesehen. Deshalb müssen Agenturen neue Einnahmequellen erschließen, wollen sie sich in Preiskämpfen nicht zerreiben lassen. Der Fokus sollte dabei immer auf Weiterentwicklung liegen – mit zwei strategischen Optionen: Entweder erbringt man mit zunehmender Erfahrung die gleiche Dienstleistung effizienter und damit kostengünstiger. Oder man konzipiert aus vorhandener Projektarbeit und Initiativen zur Wissensbildung neue Dienstleistungen, vorzugsweise im Kontext neuer Technologien und Märkte.

Auf den Kunden sich konzentrieren, nicht nur auf das Projekt

James McKinsey behauptete, alle Mittagessen, ein Drittel der Abendessen und die Hälfte seiner Frühstücke mit potenziellen Kunden verbracht zu haben. Er war ein begnadeter „Rainmaker“, sein Wissen über neue Management-Methoden öffnete ihm die Türen aller Top-Entscheider. Beziehungsaufbau und -pflege wurden zu ersten Pflicht aller Führungskräfte McKinseys. Wer zum Partner aufsteigen wollte, musste Neugeschäft bringen. Und neue Kunden wurden immer Kunden der gesamten „Firm“ und nicht eines einzelnen Silos innerhalb des Beratungsunternehmens.

So konnte der Kunde immer auf die Expertise aller Kräfte der Beratung zugreifen und war nicht auf einen Ort oder eine Niederlassung beschränkt. Er stand mit seinen Interessen stets im Vordergrund. Diese klare Ausrichtung war ein wichtiger Baustein für den Erfolg.

Für Digitalagenturen war es lange Zeit recht einfach, Kundenbeziehungen aufzubauen. Selbst kleine Unternehmen waren in der Lage, Großkunden zu gewinnen, weil sie den Aufbruch in die Zukunft versprachen. Aber dann legten sie häufig den Fokus falsch – die Realisierung von Projekten stand im Vordergrund, nicht die aktive Weiterentwicklung der Kunden. So schafften es die wenigsten, immer wieder bedeutende neue Kundenbeziehungen zu entwickeln. Zudem scheitern besonders große Agenturen häufig an ihren eigenen Strukturen, die eine übergreifende Betreuung der Kunden erschweren. Aber im digitalen Zeitalter muss jeder in der Lage sein, globale Projektteams für Kunden zu schaffen.

Beziehungen können natürlich nur dann weiter entwickelt werden, wenn kontinuierlich in den Wissensaufbau investiert wird, um relevant für Kunden zu bleiben. Probleme identifizieren und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, darum geht es, Potenziale durch neue Technologien oder Methoden entdecken und daraus Wachstumsperspektiven für Kunden ableiten – und das alles so frühzeitig und systematisch wie möglich. Nicht umsonst investiert McKinsey jährlich weit über 50 Millionen Dollar in Wissensbildung und Publikationen wie McKinsey Quarterly (seit 1964), Akzente, McKinsey Insights und das McKinsey Global Institut.

Überall dieselben hohen Standards

Es gibt nicht wenige Vertreter von großen Unternehmen, die sich über die Leistung von McKinsey und Co. beschweren, gleichwohl anfügen, „ohne“ gehe es aber auch nicht. Warum ist das so? Die Anzahl der zu bewältigenden Projekte in Unternehmen nimmt auch Dank der digitalen Transformation zu. Interne Fachkräfte sind nicht ausreichend vorhanden oder qualifiziert, um die wachsende Anzahl von Projekten zu bewältigen. Das Steuern von Projekten oder Programmen übernehmen somit Berater.

James McKinsey und seine Nachfolger propagierten von Beginn an einheitliche Standards, wie Kunden zu führen sind. Auf diese Qualität können Kunden sich verlassen – man bekommt an jeder Stelle McKinsey pur, ob bei der Projekt-Steuerung, bei der Strukturierung von Prozessen oder im Management von Interessensgruppen. Das schafft Vertrauen und definiert im hohen Maße den Projekterfolg.

Leider haben Agenturen in der Vergangenheit nicht die gleiche Konsequenz an den Tag gelegt. Häufig hörte man, einheitliche Standards wären für unterschiedliche Kunden nicht realisierbar oder würden kreative Prozesse behindern. Aber warum haben die Berater kein Problem damit?

Im digitalen Zeitalter haben sich Vorgehensmodelle für die Realisierung von Projekten wie etwa Scrum oder Kanban als Standards durchgesetzt. Sie sind für agile Projektteams gedacht und werden nicht nur in der Softwareentwicklung angewendet. Das kann eine Chance für Agenturen sein. Basierend auf diesen Standards können Leistungen angeboten werden oder auch einheitliche eigene Techniken und Methoden geschaffen werden, um sich jenseits von reinen Umsetzungsprojekten bei großen Kunden zu etablieren. Auch in die Kernfelder von Beratungen kann man damit eindringen. Es lässt sich eine Schlüsselfunktion in Projekten besetzen, die von Kunden sehr geschätzt wird und deshalb strategisch sehr relevant ist.

An Bord kommen nur die Besten

Die besten Absolventen rekrutieren, Standards durch dauerhafte Ausbildung etablieren, eine attraktive Karriereleiter anbieten, die bei herausragender Leistung schnell erklommen werden kann – mit diesem Cocktail stellt McKinsey sicher, auf die talentiertesten und am härtesten arbeitenden Kräfte bauen zu können. Die angesehene Harvard University in Boston ist fast seit Beginn eine wichtige Quelle für den Nachwuchs. In den 70er-Jahren rekrutierte McKinsey 40 Prozent der Neueinsteiger direkt von dort. Und wenn auch heute durch Startups, Silicon-Valley-Darlings oder Private-Equity-Riesen die Konkurrenz deutlich zugenommen hat, ist McKinsey nach wie vor eins der beliebtesten Unternehmen für MBA-Studenten in den USA.

McKinsey ist auch eine recht sichere Wette, falls ein Kandidat danach die Top-Position in einem börsennotierten Top-Konzern anstrebt. Laut CNBC waren in den letzten Jahren insgesamt 70 McKinsey-Alumni CEO eines Fortune-500-Unternehmens. Viele der übrigen 25.000 Alumni blicken mit Stolz auf ihre Lehre bei McKinsey zurück und bilden in der Industrie ein starkes Netzwerk, das weitere Aufträge bringt. So ist auch die Pflege der Beziehungen zu den ehemaligen Mitarbeitern sehr relevant für die Human-Capital-Building-Strategie.

Marketing in eigener Sache

McKinsey ist im Beratungsgeschäft eine Luxusmarke und seit 90 Jahren ein Paradebeispiel bestechender Markenführung. Gerade davon sind Agenturen, die sich doch eigentlich Marken-Knowhow auf die Fahne schreiben, weit entfernt. Geht es um sie selbst, werden die ansonsten so gepriesenen Prinzipien von Markenbildung und Führung häufig vernachlässigt. Wollen Digitalagenturen relevant bleiben und sich mit den Kunden weiterentwickeln müssen sie hier mehr tun: neue Themen besetzen, avancierte Technologien ins Haus holen, profilbildende „Hero“-Services entwickeln und damit zu ihrer Kernkompetenz zurückfinden: zur Zukunft.