/ Das verlässliche Selbst

Führen in einer überforderten Welt

Hand aufs Herz: Fühlen Sie sich der Welt noch hundertprozentig gewachsen? Haben Sie alles im Griff? Dann gehören Sie zu einer verschwindenden Minderheit – oder sind nicht ganz aufrichtig. Denn die allermeisten Menschen spüren heute, dass sich mit zunehmender Geschwindigkeit etwas in ihrem beruflichen Alltag verändert: Das Spektrum der Aufgaben wird immer größer, der Kalender ist ausgereizt und das Postfach chronisch voll. Irgendwie erscheint alles zu viel. Die Welt ist extrem komplex geworden, und das verunsichert und überfordert uns. Die Wissenschaft bezeichnet dieses Phänomen mit dem Akronym „VUCA“: eine Welt, die von Volatilität (volatility) , Unsicherheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Mehrdeutigkeit (ambiguity) geprägt ist. Besonders Führungskräfte wissen, was gemeint ist. Dabei stehen gerade sie in der Verantwortung, ihren Mitarbeitern Orientierung und Sicherheit zu vermitteln.

Diese VUCA-Welt haben nun die neuen Hoffnungsträger betreten, die Generation Y, junge Menschen, die zwischen 1980 und 1999 geboren sind. Sie stellen mittlerweile rund ein Viertel der Arbeitskräfte in Deutschland. Und sie bilden eine ambitionierte Generation, die hohe Bildungsabschlüsse anstrebt, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Diese Führungskräfte von morgen hinterfragen alles und lehnen Hierarchien und Regeln eher ab. Sie zu führen ist anspruchsvoll, da die Generation „Why“ die reine Funktionsmacht eines „Vorgesetzten“ als Relikt vergangener Zeiten betrachtet. Vorauseilender Gehorsam ist ihr fremd, vielmehr sind sinnstiftende Ziele Basis für ihre Gefolgschaft.

Agile Organisationsmodelle für die Generation Y

Die Unternehmen haben sich auf diese Motive eingestellt. Mit der Generation Y haben sogenannte agile Organisationsmodelle Einzug gehalten. Damit sollen die langen Entscheidungswege vermieden werden, die klassische, durch viele Hierarchien aufgeblähte Organisationen prägen. Agilität gilt auch als Gegenmittel gegen geringe Handlungskompetenz auf der Arbeitsebene und geringen Output. Alles soll schneller und einfacher gehen – und obendrein der Mentalität der jungen Arbeitskräfte entsprechen.

Verbunden damit ist ein hohes Maß an Autonomie: „Organisiert Euch doch einfach selbst, wenn wir das mit alten Modellen nicht mehr hinkriegen“, lautet die Devise. Daher zeichnen sich agile Organisationen durch wenig direkte Führung und Reglementierungen aus. Mehr Befugnisse sollen dafür sorgen, dass Entscheidungen schnell und einfach auf der Arbeitsebene getroffen werden. Das soll zudem für eine deutlich verbesserte Kommunikation sorgen, unternehmerisches Denken bei den Mitarbeitern herausbilden und eine Vertrauenskultur schaffen. Mit agilen Organisationsmodellen reagieren vor allem Technologieunternehmen, um laufenden Veränderungen zu begegnen und für kurze Innovationszyklen gewappnet zu sein. Andere versuchen, mit hybriden Modellen „the best of both worlds“ zu vereinen.

Die Überforderung bleibt

Dann ist ja alles gut, könnte man meinen. Doch leider sorgt auch die beschriebene organisatorische Transformation noch nicht für eine durchschlagende Entlastung und eine höhere Arbeitszufriedenheit bei Arbeitnehmern und Führungskräften. Leider ist es um die Befindlichkeit der Hoffnungsträger der deutschen Wirtschaft nicht gut bestellt. Laut einer aktuellen Studie von Deloitte klagen 75 Prozent der Vertreter der Generation Y über psychischen Stress am Arbeitsplatz und fühlen sich in ihrem Job nicht wohl. Auch Berichte der Krankenkassen sind alarmierend, nach denen psychische Erkrankungen über alle Altersgruppen hinweg in den letzten 20 Jahren um sage und schreibe 300 Prozent zugenommen haben. Und dabei sind psychisch Kranke auch noch im Schnitt doppelt so lange krank, wie es bei anderen Leiden der Fall ist.

Was läuft da schief? Es stellt sich mehr und mehr heraus, dass agile Arbeitsmethoden zwar eine gute Antwort auf immer komplexere Anforderungen an Unternehmen sind. Anders als von den Agilitäts-Vordenkern behauptet, ersetzen sie aber Führung nicht. In der VUCA-Welt brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Führung. Auf Selbststeuerung beruhende Arbeitsmodelle mögen funktionale Vorteile bieten, sie sind aber nicht die richtige Antwort auf das Bedürfnis nach Entlastung und Sicherheit.

Selbstführung als wichtigste Führungskompetenz der Zukunft

Aber wie führt man richtig? Entsprechende Theorien zielten lange darauf ab, fachliche, methodische und strategische Kompetenzen gleichwertig zu entwickeln. Mittlerweile zeigt sich aber, dass soziale Kompetenzen einer Führungskraft nicht nur einen Baustein für Führungseffektivität darstellen, sondern die Grundlage dafür sind. Nur sie wecken bei Mitarbeitern die Bereitschaft, den Führungskräften zu folgen, das Beste zu geben und Loyalität für das Unternehmen zu entwickeln. Führungskräfte müssen ihren Mitarbeitern eine verlässliche Basis sein. Dazu gehören Fürsorge und emotionale Verlässlichkeit, ein positives Menschenbild, Fordern und Fördern, Vertrauen und sinnstiftende Ziele. Auf dieser Basis entstehen vertrauensvolle Beziehungen zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. In diese Richtung weisen viele Führungskonzepte, die aktuell postuliert werden: Man spricht von Mindful Leadership, Reflective Leadership, Empathic Leadership, Shared Leadership, Agile Leadership und vielem mehr.

Nur: Wie können sich angespannte Führungskräfte, die selbst überfordert sind, in eine Verfassung bringen, die ihnen ermöglicht, die geforderten Führungsqualitäten zu entwickeln?

Lange Zeit hat man sich darauf konzentriert, überforderte Führungskräfte zu therapieren, um den Auswirkungen einer dauerhaften Überbelastung zu begegnen, die sich in Depressionen und anderen negativen Phänomen niederschlägt. Nun verbreitet sich zunehmend die Überzeugung, dass Führungskräfte aktiv eine positive Verfassung pflegen sollten, um gar nicht erst überfordert zu werden – Prophylaxe statt Therapie. Wie das gelingen kann, versucht u.a. die Positive Psychologie zu ergründen.

Psychologisches Kapital: die innere Kraftquelle des Menschen

Die Positive Psychologie, eine junge Disziplin der Wissenschaft des menschlichen Erlebens und Verhaltens, hat das psychologische Kapital des Menschen für sich entdeckt. Auf den ersten Blick ist es ungewöhnlich, die Begriffe Psychologie und Kapital in Verbindung zu bringen. Bislang sprechen wir meist von ökonomischem Kapital (was wir haben), intellektuellem Kapital (was wir wissen) und sozialem Kapital (wen wir kennen). Das psychologische Kapital beschreibt unsere wesentliche innere Kraftquelle, die sich in Willensstärke, Optimismus und Selbstvertrauen ausdrückt und durch die Positive Psychologie erforscht wird. Ein hohes psychologisches Kapital ist die Grundlage dafür, dass Führungskräfte eine verlässliche Basis für die Menschen sein können, die Ihnen folgen. Es sorgt für eine positive Grundhaltung und wirkt anziehend und motivierend auf Mitarbeiter. Das bestätigen nicht zuletzt Studien, die in den vergangenen Jahren – unter anderem von der Universität Wien und Graz – durchgeführt würden. Sie zeigen, dass Mitarbeiter nur dann den Sprung zur Führungskraft anstreben sollten, wenn sie ein hohes psychologisches Kapital besitzen.

Und wie kann man es entwickeln und schützen? Indem man Selbstführung beherrscht, um Herr seiner Selbst zu bleiben – sie ist die wichtigste Führungskompetenz unserer Zeit. Erfolgreiche Selbstführung entwickelt Selbstkompetenzen, die das Selbstvertrauen von Führungskräften stärken, sie zur Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle befähigen, was wiederum die Basis für eine hohe Selbstachtung und ein hohes Selbstwertgefühl ist. Ein hohes psychologische Kapital ist ein wichtiger Baustein, um diese Selbstkompetenzen zu entwickeln. Gelingt das, können Führungskräfte dauerhaft eine verlässliche Basis für ihr Team sein. Und gemeinsam mit dem Team können sie einen Kreislauf in Gang setzen, der zu erfüllenden Höchstleistungen führt.