/ Vom Jäger zum Gejagten

Warum die Börse den Niedergang der Werbeholdings beschleunigt – und wie es auch anders gehen kann

Was waren das für Zeiten: Mitte der 80er-Jahre begann für die großen Werbenetzwerke WPP, Omnicom, Publicis und IPG ein beachtlicher Siegeszug. In großem Stil kauften sie Firmen auf, es entstanden regelrechte Imperien mit bis zu 200.000 Mitarbeitern. Der Branchenprimus WPP schluckte 14 Jahre lang wöchentlich ein Unternehmen, insgesamt kamen somit 700 Übernahmen zusammen. Allein für den Kauf von Young & Rubicam legte WPP 5,7 Milliarden US-Dollar auf den Tisch. Damals stellten klassische Werbeagenturen das lukrativste Geschäftsfeld der Holdings dar – und noch nicht wie heute die Mediaagenturen. Werbung galt als Zukunftsthema, und das spiegelte sich nicht zuletzt in guten Börsenbewertungen wider.

Heute hat sich das Bild massiv geändert. Obgleich die Werbeholdings nach wie vor überdurchschnittliche Renditen vorweisen, sinken ihre Bewertungen seit zwei Jahren stetig. Fast 30 Prozent ihres Wertes haben die Top 5 börsennotierten Holdings in diesem Zeitraum eingebüßt – und das auch noch in einer Hochkonjunkturphase: Die Großkunden der Werbenetzwerke verzeichnen sprudelnde Gewinne und brauchen Unterstützung bei der Digitalen Transformation – also eigentlich eine ideale Konstellation. Dennoch vermissen die Börsianer die notwendigen Zukunftsphantasien.

Woran liegt das? Das Top-Management der Holdings hat es in der Vergangenheit versäumt, technologische Entwicklungen und Trends zu erkennen, mit denen sich neue Leistungsangebote für Kunden schaffen lassen – gerade heute, wo neue Schlüsseltechnologien viele Chancen bieten, um innovative Marketing- und Vertriebsdienstleistungen zu entwickeln. Kunden suchen händeringend nach Lösungen, um Marketingprozesse zu automatisieren, um die Menge an Kanälen in den Griff zu bekommen und um Inhalte zunehmend automatisiert zu erstellen und zu distribuieren. Und sie brauchen externe Expertise, um einzigartige Kundenerlebnisse zu schaffen.

Hier haben die Holdings das Heft des Handelns nicht in die Hand genommen, und die Analysten glauben auch nicht, dass sie ihre Chancen noch nutzen werden, dass sie daraus attraktive Wachstumsstrategien entwickeln können, kurzum: dass sie in Zukunft noch eine wichtige Rolle spielen.

IT-Berater beflügeln die Phantasie der Analysten

Genau das traut man stattdessen den börsennotierten IT-Beratern zu, die in den vergangenen Jahren fulminant gewachsen sind und massiv in den Markt der Werbeholdings vordringen. Das Vertrauen drückt sich eindrucksvoll in den Bewertungen aus: Der durchschnittliche Marktwert eines börsennotierten Beraters entspricht dem 3,6-fachen seines Jahresumsatzes. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Wert der Werbeholdings beträgt gerade mal das 0,9-fachen des Jahresumsatzes. Obwohl die Top 5 IT-Berater „nur“ den 1,5-fachen Jahresumsatz der Top 5 Werbeholdings erzielen, liegen sie beim Marktwert 5,5 Mal höher

Der Abstand in den Marktwerten ist also erschreckend groß. Er rückt die IT-Berater in die Pole-Position, wenn es um den Aufkauf fortschrittlicher Unternehmen geht – und schränkt gleichzeitig den Spielraum der Werbeholdings massiv ein. Attraktive Firmen, die einem Verkauf offen gegenüberstehen, werden dazu tendieren, sich einem IT-Berater anzuschließen. Denn dieser kann dank seiner hohen Bewertung deutlich höhere Kaufsummen anbieten. Technologie schlägt Kreativität – so lautet die Botschaft, die sich auf diese Weise in den Köpfen von Analysten und Anlegern festsetzt.

Neben den großen Herausforderungen, denen die Holdings ohnehin schon begegnen, macht sich somit ein weiterer Effekt schmerzlich bemerkbar: Die Börsennotierung ist zum Fluch geworden. Denn die Logik der Kapitalmärkte sorgt für eine erbarmungslose Hebelwirkung: Läuft es gut, verschafft die positive Bewertung Rückenwind für die Zukunft – im umgekehrten Fall zeigt die Börse keine Gnade; Zeit zum Luft holen für eine Neuausrichtung wird nicht eingeräumt. Für die Holdings bedeutet das: Ohne den Druck der Börse ständen sie deutlich besser da.

„Survival of the fittest“

Dass sich die Holdings samt und sonders für den Schritt an die Börse entschieden haben, ist zunächst verständlich – er ist eine wichtige Voraussetzung, wenn man in großem Stil Firmen übernehmen will. Man kann eigene Aktien als Akquisitionswährung nutzen oder frisches Kapital verhältnismäßig einfach an den Kapitalmärkten einsammeln. Mit den Übernahmen erweitert man das Produktportfolio in strategischen Bereichen oder verschafft sich Zugang zu neuen Märkten. So war das auch im Falle der Werberiesen, die neben den klassischen Kreativschmieden auch Media-, Direktmarketing-, Digital-, PR- und Event-Agenturen, Marktforschungsinstitute, Spezialdienstleister und vieles mehr gekauft haben. Besonders die Konsolidierung im Markt der Mediaagenturen war von Erfolg gekrönt: Sie sind unter anderem für den Einkauf von Werbeplätzen verantwortlich und strichen – und streichen immer noch – durch die geschickte Bündelung von Einkaufsmacht die höchsten Renditen für die Werbenetzwerke ein.

Die Börsennotierung ist also eine typische Wahl für ambitionierte Wachstumsunternehmen. Sie führt jedoch auch dazu, dass Wachstumszahlen, Erträge und vieles mehr öffentlich und frei zugänglich sind. Die Unternehmen werden permanent analysiert, die Analysten pochen auf Wachstum oder zumindest eine Strategie, die Wachstumsphantasien erzeugt. Auf dieser Basis heben oder senken sie den Daumen, empfehlen den Aktienkauf oder raten ab. Erfolgreiche Unternehmen mit einer guten Wachstumsstrategie und hervorragenden Zukunftsaussichten kommen so in den Genuss hoher Bewertungen, was sich im Marktwert, der sogenannten Marktkapitalisierung, eines Unternehmens niederschlägt. Diese Bewertungen sind von großer Bedeutung, wenn es um weitere Akquisitionen geht. Unternehmen hingegen, denen die Kapitalmärkte das Vertrauen entzogen haben, werden leicht zu Übernahmekandidaten und verschwinden von der Bildfläche.

Wann übernimmt Accenture eine Werbeholding?

Welche Konsequenzen diese Gesetzmäßigkeiten haben, zeigt sich am eindrucksvollsten bei den bereits genannten IT-Beratern. Die beiden Schwergewichte sind die indische Tata-Consulting und die US-amerikanische Accenture, die auch in Deutschland mit großem Abstand Marktführer für IT-Beratungsleistungen ist. Der Börsenwert von Tata-Consulting hat sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht, der von Accenture stieg im gleichen Zeitraum sogar um den Faktor 6. Beide Unternehmen sind Giganten mit jeweils mehr als 400.000 Mitarbeiter und einem Marktwert von über 100 Milliarden US-Dollar.

Top5 IT-BeraterMarktkap.

Top5 WerbeholdingsMarktkap.

Ausgerechnet Schwergewichte wie Accenture rücken nun mit Macht auf das Terrain der Werbeholdings vor. Dabei nutzen zielstrebig die Gunst der Stunde und kaufen zu – seien es Marketing-Dienstleistungen, die zunehmend von Technologie durchdrungen werden oder sogar Kreativ-Dienstleistungen, die zu den Hero-Services der Werbenetzwerke gehören. Auf Grund der hohen Bewertung ist der Anreiz für Accenture sehr groß, wie ein Staubsauger durch die Branche zu rollen. Allein im Zeitraum vom 30. November bis 12. Dezember 2018 finalisierte Accenture den Kauf von sieben Unternehmen auf vier Kontinenten, ein „Global Buying Blitz“, wie es das australische IT-Portal ARN bezeichnete. Dazu gehörte die renommierte deutsche Werbeagentur Kolle Rebbe. Und im April 2019 folgte das nächste Ausrufezeichen mit der Übernahme des kreativen Schwergewichts Droga5 - ein weiterer Beweis, dass Accenture längst auch im Kerngebiet der Werbeholdings wildert.

Vor diesem Hintergrund wäre auch der nächste Schritt vorstellbar: die Übernahme eines börsennotierten Werbenetzwerks. Schwierig wäre das nicht: Wenn Accenture oder ein ähnliches Schwergewicht den Aktionären einen Aufschlag von 20 bis 30 Prozent auf den aktuellen Kurs - das sogenannte Premium – anbieten würde, könnte sich das Management kaum gegen eine Übernahme wehren. Auch das ist Konsequenz der Börsennotierung: Verliert die Börse das Vertrauen in ein Unternehmen und auch die Geduld, wird es vom Jäger zum Gejagten. Im letzten Jahr wurde bereits kolportiert, dass die französische IT-Beratung Capgemini das Werbenetzwerk Publicis übernehmen wolle. Beide haben französische Wurzeln und kooperieren bereits.

Aktuell scheinen die IT-Berater noch selektive Akquisitionen von Einzelunternehmen in strategisch wichtigen Regionen zu bevorzugen. Diese lassen sich deutlich einfacher integrieren als Hunderte von Tochterfirmen einer Werbeholding, die über den Globus verteilt sind. Diese Strategie kann sich aber schnell ändern, da die IT-Berater durch die Unterschiede in der Bewertung sehr hungrig sind. Sobald sie den Kapitalmärkten mit dem Kauf einer Werbeholding eine attraktive Strategie präsentieren, können sie Milliardenwerte schaffen – das kann sehr verlockend sein.

Es geht auch ohne Börsennotierung

Die gute Nachricht für die Werbebranche: Es ist kein Naturgesetz, dass man nur börsennotiert wachsen kann. Unternehmen wie McKinsey, BCG, Deloitte und PwC haben darauf verzichtet und dennoch herausragendes profitables Wachstum realisiert. Diese Unternehmen sind im Besitz ihrer Partner. McKinsey wird von 1700 Partnern gesteuert, die auch in der Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kunden stehen. Dafür profitieren die Consultants als Eigner von den Profiten des Gesamtunternehmens. In Krisenzeiten sind partnergeführte Firmen als Privatunternehmen deutlich weniger anfällig für Übernahmen. Das bringt die nötige Zeit und Ruhe, sich bei Bedarf neu zu erfinden, was McKinsey & Co. bereits mehrfach gelungen ist.

Aber nicht nur die Börsennotierung, auch die Holding-Struktur mit ihrer Mehrmarkenstrategie macht den Werbenetzwerken zu schaffen. Sie erschwert die Kommunikation des Dienstleistungsangebots und die Bildung einer starken Dachmarke. Ursprünglich wurde die Mehrmarkenstrategie von den Werbenetzwerken präferiert, um mögliche Kundenkonflikte zu vermeiden. Aber diese Problematik ist passé – Firmen wie Accenture arbeiten unter einem Namen für viele Unternehmen, die untereinander im Wettbewerb stehen. Zudem erschwert eine Mehrmarkenstrategie die Steuerung des gesamten Unternehmens, da keine übergreifende Gewinn- und Verlustrechnung stattfindet. Die einzelnen Marken der Werbeholdings ziehen dann nicht immer an einem Strang.

Wenn sie diese strukturellen Probleme loswerden wollen, müssen die Holdings einen radikalen Wandel einleiten. Börsennotierungen kann man wieder aufgeben, um einen „Refresh“ zu initiieren – wenn man Investoren findet, die an die Zukunftspläne glauben. Partnermodelle sind aktuell auch deshalb ratsamer, weil man so den Aderlass von Talenten, die zu IT-Beratern, Tech-Konzernen und Startups wechseln, durch Anreizsysteme mit Partner-Perspektive stoppen kann.

Dafür muss das Management aber das Talent und die Kraft haben, ein neues Territorium abzustecken, das für Weltniveau und Wachstum steht. Denn auch wenn die Werbeholdings „spät dran sind“, kann es nicht im Interesse von Kunden sein, dass Accenture und Co. in naher Zukunft über eine höhere Marktkapitalisierung und deutlich mehr Mitarbeiter verfügen als die größten traditionellen Wirtschaftsunternehmen.

Eine Unternehmenskultur, die nicht von Quartalsberichten und Analysten-Meinungen geprägt ist, kann dabei helfen. Partnermodelle können für die notwendige Flexibilität und auch den Mut sorgen, große Aufgaben anzupacken, ohne stets ängstlich auf den Aktienkurs zu schielen. Der BMW-Betriebsratschef Manfred Schorch attackierte vor wenigen Wochen den eigenen Vorstand mit den Worten: „Wir brauchen Unternehmer und nicht Unterlasser!“ Gleiches kann man den Werbeholdings nur wünschen.

Aktuelle Bewertungen und Kennzahlen der Top 5 IT-Berater und Werbe-Holdings unter:

https://www.nea.de/top5-it-berater-zu-top5-werbeholdings/