/ Die stille Macht

Warum Indien in der Tech-Welt immer mächtiger wird

Die ganz großen Erfolgsgeschichten des digitalen Zeitalters schreiben bislang amerikanische und chinesische Unternehmen, sie heißen Google, Amazon, Apple, Alibaba oder Tencent. Sämtliche 20 Plattform-Unternehmen mit den höchsten Börsenbewertungen

stammen entweder aus dem Silicon Valley oder dem Reich der aufgehenden Sonne. Gleiches gilt für die überwiegende Mehrzahl der Webportale mit den höchsten Reichweiten. Anscheinend teilen diese beiden Supermächte die digitale Welt unter sich auf, während Europa das Nachsehen hat. Die alte Welt, sie wird gnadenlos abgehängt.

Die ganz großen Erfolgsgeschichten des digitalen Zeitalters schreiben bislang amerikanische und chinesische Unternehmen, sie heißen Google, Amazon, Apple, Alibaba oder Tencent. Sämtliche 20 Plattform-Unternehmen mit den höchsten Börsenbewertungen stammen entweder aus dem Silicon Valley oder dem Reich der aufgehenden Sonne. Gleiches gilt für die überwiegende Mehrzahl der Webportale mit den höchsten Reichweiten. Anscheinend teilen diese beiden Supermächte die digitale Welt unter sich auf, während Europa das Nachsehen hat. Die alte Welt, sie wird gnadenlos abgehängt.

Kein Land der Welt weist eine solche Vielfalt an Kulturen, Ethnien, Religionen und Sprachen auf. Dabei sorgt nicht zuletzt das Kastensystem für extreme soziale Unterschiede. Rund 30 Prozent der Einwohner leben in Armut. Dennoch zeichnet Indien bisher eine bemerkenswerte soziale Stabilität aus, eine Folge seiner Kulturstandards, wie Experten glauben. Gleichzeitig entwickelt sich Indien zum bald bevölkerungsreichsten Land der Welt. Diese Faktoren könnten dafür sorgen, dass Indien in absehbarer Zeit zu den drei größten Volkswirtschaften der Welt gehört – und damit an Deutschland vorbeizieht.

Elite-Hochschulen sorgen für die Initialzündung

Lange Zeit war Indien für die internationale Wirtschaft fast nur als Reservoir billiger Arbeitskräfte relevant. So waren es vor allem indische Bauarbeiter, die die Mega-Citys in arabischen Ölstaaten wie Dubai oder Abu Dhabi errichtet haben.

Als aber Indiens Wirtschaft in den 90er Jahren liberalisiert wurde, setzte auch im Land selbst ein ökonomischer Aufschwung ein. Fast alle Weltkonzerne begannen, dort Standorte mit einer gewaltigen Anzahl von Mitarbeitern aufzubauen, die meist Verwaltungsaufgaben übernahmen oder Call-Center betrieben. An jungen, gebildeten und äußerst preisgünstigen Arbeitskräften war kein Mangel. So wurde Indien zum größten Anbieter von administrativen Dienstleistungen auf dem Weltmarkt.

Aber, das war nur der Anfang: Auch die IT-Industrie erlebte einen Aufschwung, der seinesgleichen sucht. Schon in den 50er Jahren hatte die Regierung die Indian Institutes of Technology, kurz IIT, gegründet. Damit wurde der Grundstein für den Aufbau einer eigenen wissenschaftlichen Elite gelegt. Mittlerweile haben die IITs Weltruf erlangt. Sie liegen in den internationalen Ranglisten der besten Ingenieursuniversitäten auf Platz 4 – gleich hinter dem amerikanischen Spitzentrio (Berkeley, MIT, Stanford). Damit sind die IIT zu einer international renommierten Marke geworden und bilden die Basis für die indischen Hochburgen der Informationstechnologie. Nur rund 2 Prozent der Bewerber erhalten nach der Aufnahmeprüfung einen der begehrten Plätze. Wer es dort schafft, hat alle erdenklichen Chancen auf eine steile Karriere und hebt das Ansehen der gesamten Verwandtschaft. Mittlerweile ist weltweit jeder dritte Software-Ingenieure indischer Abstammung.

Aber die Talente suchen ihr Glück nicht nur im Ausland, sondern stehen vor allem dem heimischen Arbeitsmarkt zur Verfügung – was den Standort wiederum für die Ansiedlung von Tech-Firmen attraktiv macht. Allein im indischen Technopolis, in Bangalore, beschäftigen hunderte Unternehmen über 200.000 IT-Fachkräfte – mehr gibt es nicht einmal im Silicon Valley. Zahlreiche multinationale Konzerne, unter anderem DAX-Schwergewichte wie SAP, Daimler, BMW und Siemens, haben in den letzten 20 Jahren High-Tech Center aus dem Boden gestampft, um sich den Zugriff auf das große Angebot attraktiver Fachkräfte zu sichern.

Indiens IT-Giganten lassen die Muskeln spielen

Indien begnügt sich aber nicht damit, gut ausgebildete Fachkräfte für internationale Konzerne zu liefern. Viele der besten Talente haben die Initiative ergriffen und selbst Unternehmen gegründet. Auf diese Weise sind erfolgreiche indisch-stämmige Tech-Konzerne wie Tata, Infosys, WiPro, Cognizant, HCL oder Tech Mahindra entstanden. Zusammen beschäftigen diese Schwergewichte mittlerweile über 1,2 Millionen IT-Fachkräfte. Angeführt wird die Liste von Tata Consulting, dem ältesten IT-Dienstleister, mit mittlerweile über 400.000 Mitarbeitern. Aber auch weniger bekannte Unternehmen wie Cognizant mit über 275.000 Mitarbeitern lassen mittlerweile die Muskeln spielen und akquirieren Unternehmen in Europa und den USA.

Indische IT-Unternehmen widerlegen damit auch die These, dass Geschäftsmodelle im Bereich der IT- oder Professional Services nicht skalierbar sind, weil eine Steigerung der Mitarbeiterzahl in kurzer Zeit unmöglich ist. Die indischen IT-Giganten sind dazu in der Lage. Sie generieren mittlerweile IT-Dienstleistungen im Wert von über 160 Milliarden US-Dollar. Zwar wird davon der Löwenanteil von 110 Milliarden US-Dollar ins Ausland exportiert, aber die heimische Quote steigt. Auch sind die Wachstumsraten mit 7 bis 8 Prozent immer noch überdurchschnittlich hoch. Das zeigt: Indiens Hunger ist noch lange nicht gestillt. Der aufstrebende Riese will sich auf der Weltbühne den Status einer Supermacht verschaffen. Und er hat sehr gute Karten.

„Ein Nerd übernimmt das Kommando“

Indiens Top-Talente sind derweil längst in die Schaltzentralen der internationalen Tech-Industrie aufgestiegen. Im Silicon Valley bilden indisch-stämmige Fachleute die Führungsmannschaft von mittlerweile über 750 Start-Ups und Tech-Firmen. Viel Symbolkraft hatte 2014 die Berufung von Satya Nadella zum CEO von Microsoft. „Ein Nerd übernimmt das Kommando“, titelte damals ein skeptischer „Spiegel“. Wie sollte ein „Hardcore-Techi“ wie Nadella Microsoft wieder auf die Erfolgsspur führen können? Die Journalisten waren offenbar noch stark beeindruckt vom extrovertierten Auftreten Steve Ballmers, der gerne schreiend über eine Bühne rannte, um seine Mitarbeiter bei einer Produkteinführung zu elektrisieren, oder der in Meetings seinen Worten besonderen Ausdruck verlieh, indem er Konferenzstühle quer durch den Raum schleuderte. Aber all das hat Microsoft nicht geholfen. Der Konzern hatte über viele Jahre den Tech-Sektor dominiert und mit Windows und MS Office eine Lizenz zum Gelddrucken in der Hand gehabt. Aber mit dem Aufstieg des Internets und unter Führung Ballmers schien nichts mehr zu gelingen. Konnte also ausgerechnet ein indisch-stämmiger Nerd den drohenden Untergang abwenden?

Er konnte. Seit Nadellas Amtsantritt ist der Wert Microsofts um rund 500 Milliarden US-Dollar gestiegen. Dem Konzern ist mit Nadella der beeindruckendste Turnaround im Tech-Sektors gelungen, er hat Apple als wertvollstes Unternehmen überholt. Nadella ist der CEO der Stunde, ein nahbarer, empathischer Inspirator. Wenn er heute davon spricht, dass gute Führung bedeute, „in jedem Menschen das Beste zum Vorschein zu bringen“, wenn er betont, dass Empathie und Demut die Basis guter Führung ist, dann ist die Medienwelt nur noch beeindruckt. Nadella ist in sehr kurzer Zeit zum bejubelten Vorbild für Führungskräfte im digitalen Zeitalter geworden. Er hat maßgeblich dafür gesorgt, dass die Zeiten autoritärer Führung im Stile von „Command and Control“ in den Konzernen endgültig vorbei sind.

Brahmanen fördern mathematisches Denken

Ein Jahr nach der Berufung Nadellas machte ein weiterer, äußerst talentierter Ingenieur Furore: Sundar Pichai wurde zum CEO des Tech-Riesen Google ernannt. Innerhalb eines Jahres hatten damit zwei Ingenieure mit indischen Wurzeln die Führung von zwei der drei wertvollsten Unternehmen der Welt übernommen. Weitere Top-Manager reüssierten in den obersten Etagen des Tech-Sektors, allen voran Shantanu Narayen bei Adobe. Mit der Einführung der Adobe Marketing Cloud ist ihm eine grandiose Diversifikation des Produktangebots geglückt, die zu einer Vervierfachung des Aktienkurses führte – die Bewertung von Adobe kletterte auf rund 120 Milliarden US-Dollar. Wie Nadella schob auch Narayen einen in die Jahre gekommenen Software-Konzern wieder in die Erfolgsspur.

Nun könnte man die genannten Manager für Ausnahmetalente halten, die keinerlei Rückschlüsse auf ein außergewöhnliches Zukunftspotenzial Indiens zulassen. Aber es lohnt sich, genauer hinzusehen. Nadella stammt wie Adobes CEO Shantanu Narayen aus Hyderabad, einer Art Cyber-Schwester des Technologiezentrums Bangalore. Ihre Lebensläufe gleichen der Biografie von Google-Lenker Punchais. Nadella kommt aus einer brahmanischen Familie. Die Brahmanen sind die dominante Kraft in den Führungscrews vieler Tech-Companies. Besonders im Süden Indiens, wo ein Großteil dieser Unternehmen ansässig ist, haben sich die brahmanischen Ideale erhalten. Sie haben vor allem für eine große mathematische Tradition gesorgt, die das analytische Denken fördert. „Wir Inder haben das im Blut“, erklärte Nandan Nilekani, Mitbegründer des IT-Konzerns Infosys Technologies. Aus diesem Umfeld kann also auch in Zukunft noch viel kommen.

Supermacht des Wissens

Dafür spricht auch, dass der Ausbau der indischen Infrastruktur mit Hochdruck vorangetrieben wird. Aus den ursprünglich sieben technisch-mathematischen Elitehochschulen des Landes, den IITs, sind mittlerweile 23 geworden. Die Hälfte entstand in den vergangenen zehn Jahren, und nicht mehr nur im Süden des Landes. Der hohe Anteil junger Menschen an der Bevölkerung wird in den nächsten Jahren für ein großes Potenzial an gut ausgebildeten Fachkräften sorgen. Die in Europa und auch in China zu erwartende „Vergreisung“ der Bevölkerung wird in Indien deutlich später einsetzen. Die Bevölkerung ist mit einem Durchschnittalter von rund 27 Jahren deutlicher jünger als die des Nachbarn China (37 Jahre) – in Deutschland liegt es gar bei 47 Jahren.

Ein weiterer Treiber dürfte die engere Integration indischer Unternehmen in die Weltwirtschaft sein. Über 2000 „digitale“ Start-Ups hat das Land vorzuweisen, über 130 davon in den Schlüsseltechnologien Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz. Der indische Elefant emanzipiert sich weiter und ist auf dem besten Weg, eine Supermacht des Wissens zu werden.