/ Go big or go home.

Die Plattform-Ökonomie wird für die deutschen Autohersteller sehr gefährlich, wenn sie sich nicht endlich selbst ans Steuer setzen

Noch agiert die deutsche Autoindustrie aus einer Position der Stärke. Während noch 1950 85 Prozent aller Autos in den USA gebaut wurden, hat sich das Blatt in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewendet: Mit hohem Qualitätsanspruch und herausragender Effizienz in der Produktion haben sich die deutschen Hersteller nach vorn gearbeitet. Premium-Mobile von Audi, BMW, Mercedes-Benz und Porsche sind heute begehrte Love-Brands auf dem Weltmarkt und erfreuen sich sehr großer Nachfrage. Wertmäßig ist Deutschland heute mit Abstand der weltweit größte Pkw-Exporteur. „Made in Germany“ steht für Erfindergeist, Innovation und herausragende Qualität. Basis der deutschen Wertarbeit war und ist eine kompromisslose Produkt-Zentrierung – geprägt durch hohe Ingenieurkunst in der Produktentwicklung und durch einen unablässigen Drang zur Optimierung der Wertschöpfungskette.

Doch mittlerweile hat sich das Bild getrübt: Der Diesel-Skandal und alles, was in der Folge über Manipulationspraktiken bekannt geworden ist, hat mächtig am Image der Branche gekratzt. Und es ist verständlich, dass die Aufarbeitung derzeit sehr viele Kapazitäten in den Konzernen bindet.

Aber die Diskussion um die Folgen der Abgas-Affäre darf nicht den Blick verstellen auf ein viel größeres Problem, das der deutschen Autoindustrie in Zukunft droht: Die Digitalisierung – und damit verbunden die Plattformökonomie aus dem Silicon Valley – kann dafür sorgen, dass das bisherige, erfolgreiche Geschäftsmodell zusammenbricht. Vielleicht zählen sie schon bald nicht mehr viel, die hochgelobten Tugenden der Branche. Nicht umsonst sagt Porsche-Vorstand Lutz Meschke: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt – dann müssen wir alles verändern.”

Warum ist das so?

Im Zuge der Digitalisierung erleben wir die radikalste industrielle Revolution aller Zeiten: Noch nie haben Schlüsseltechnologien in so kurzer Zeit Geschäftsmodelle in Frage gestellt und Industriegiganten zum Wanken gebracht. Mobile und soziale Medien, Cloud Computing und Künstliche Intelligenz sind Wegbereiter neuer digitale Geschäftsmodelle, die die Welt beherrschen und den Lebensalltag der Menschen bestimmen. Die neuen Kräfte finden ihren besonderen Ausdruck in den großen Plattformen, die umfassende Ökosysteme bilden: Google, Amazon, Alibaba, Facebook, Airbnb, Uber und viele mehr. Ihre Betreiber fahren oft milliardenschwere Monopolrenditen ein, ohne überhaupt ein physisches Produkt anzubieten.

Netzwerk-Effekte führen zu digitalen Monopolen

Die beliebtesten digitalen Angebote können exponentielles Wachstum, den berühmten „Hockey Stick“, vorweisen. Das Wachstumstempo ist so hoch, dass sie in wenigen Jahren in ihrem Sektor Monopolstatus erreichen. Sie bestätigen das, was Wirtschafts- und Netzwerk-Theoretiker bereits vor Jahrzehnten prognostizierten: Netzwerke und damit auch das Internet führen zu Monopolen.

Im Endkundenmarkt treten die Plattformen häufig als perfektionierte Vermittlungsmaschinen auf. Ihr übergeordnetes Ziel ist es, so rasch wie möglich die größte Anzahl an Kunden und Anbietern auf Ihren Plattformen zu vereinen. Eine herausragende Customer Experience ist Pflicht und macht die Wahrnehmung einer Leistung besonders auf dem Smartphone so bequem wie nur denkbar. Aus den Interaktionen mit den Nutzern entstehen Daten, die zur Optimierung verwendet werden – was die Customer Experience durch noch relevantere Angebote weiter verbessert. Mund-zu-Mund Propaganda und soziale Netzwerke sorgen dafür, dass weitere Anbieter und Konsumenten angezogen werden, was die Attraktivität abermals erhöht. Ein simples Prinzip: In jedem Netzwerk steigt der Nutzen für alle Teilnehmer an, wenn neue Teilnehmer hinzukommen.

Gewinner sind in diesem System nicht mehr die Unternehmen, die eigene Produkte herstellen und Wertschöpfungsketten optimieren, sondern Vermittler, die durch Ihre Plattformen Nachfrage und Angebot optimal miteinander verbinden. Alte ökonomische Prinzipien werden damit auf den Kopf gestellt.

Amazon: Die Plattform für das gesamte Leben

Amazon hat ohne Zweifel die beeindruckendste Plattform der Welt geschaffen. Im elektronischen Store verkauft Amazon eigene Produkte und bietet seit der Jahrtausendwende Händler die Möglichkeit, auf dem Amazon Marketplace Waren anzubieten. Somit ist die Plattform seit dieser Zeit „offen”. Mehr als zwei Millionen Händler tummeln sich weltweit auf dem Marktplatz und realisieren rund die Hälfte des gesamten Plattformumsatzes. Weitere wichtige Plattformen sind Amazon Web Services (AWS) und Alexa. Mittlerweile ist der US-Konzern in den diversen Branchen – Handel, Logistik, Cloud Computing, Werbung, Entertainment und Verbraucher-Technologie – ein Riese. Und es ist Potenzial in Hülle und Fülle vorhanden, weitere digitale Ökosysteme zu schaffen oder vorhandene zu erweitern. In den USA kann man mittlerweile komplette „Amazon-Häuser“ kaufen, die mit allen Internet-of-Things-Tools des Konzerns ausgestattet sind. Die Marktforscherin Eva Stüber prophezeit vor diesem Hintergrund eine „Amazonisierung unseres Lebens“. Die düstere Vision: Alexa wird zur Todesfee von Marken, Amazons Eigenmarken überrollen alles.

Uber: Taxischreck mit gigantischer Bewertung

Für die Automobilindustrie ist vor allem Uber eine Gefahr. Uber erlaubt Privatleuten, mit den eigenen Pkws Personen zu befördern und damit ein zusätzliches Einkommen zu erzielen. Uber ist somit ein Vermittlungsgigant ohne eigenen Fuhrpark. Allein in New York vermittelt das größte Startup der Welt täglich über 400.000 Fahrten an 60.000 Uber-Fahrer. Weltweit hat Uber über 1,5 Millionen Fahrer in rund 90 Ländern im Angebot. Das Wachstum verläuft exponentiell – typisch für Plattformen mit starken Netzwerkeffekten. Das gigantische Wachstumspotenzial von Uber hat die Bewertung des Unternehmens auf über 50 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Und erst kürzlich investierte Uber in „the next big thing“ – den Bikesharing-Dienst Jump.

Ubers Vision ist es, Mobilitätsdienste so einfach und günstig wie möglich zu machen, dass es in Großstädten keinen Grund mehr gibt, ein eigenes Fahrzeug zu besitzen. Ubers Siegeszug wird durch Urbanisierung und eine Veränderung der Mobilitätsgewohnheiten in Richtung Bedarf (statt Besitz) beflügelt. Die günstigen Fahrdienste sollen innerhalb von fünf Minuten verfügbar sein, der Kilometerpreis bei etwa 35 Cent liegen – weshalb sollte jemand noch ein Fahrzeug in einer Metropole besitzen wollen? Und wenn Uber zu niedrigen Preisen Personen befördern kann, warum nicht auch Einkäufe, die Pizza, Medikamente oder sonstiges, bis zur Haustür befördern?

Gefahr bekannt – aber es passiert zu wenig

Vor den Gefahren, die die Plattform-Ökonomie mit sich bringt, ist schon häufig gewarnt worden. Man weiß, dass die Autohersteller in der digital transformierten Welt Gefahr laufen, Zulieferer für branchenfremde Mobilitätsanbieter zu werden. Umso erstaunlicher, dass sich in Deutschland immer noch zu wenig bewegt. Summiert man den Wert der relevanten Plattform-Unternehmen in den USA, China und der EU, liegt der Anteil der europäischen Unternehmen am Wert bei 3 Prozent (Quelle: netzoekonom.de). Das heißt: Wertschöpfungsströme aus Europa verschieben sich besondere in die USA. Die wirtschaftliche Basis deutscher Vorzeigeindustrien ist ernsthaft bedroht. Deutschland muss aufholen und radikaler den Weg der Transformation beschreiten. Das gilt insbesondere für die Autoindustrie. Aber wie kann sie auf die Herausforderung reagieren?

Daimler und BMW bündeln ihre Kräfte

Der wichtigste Schritt liegt darin, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und eigene Mobilitätsplattformen zu schaffen – und zwar am besten gemeinsam. Daimler und BMW haben das verstanden und ihre Mobilitätsangebote in einem Joint Venture zusammengeführt, um die Marktführerschaft anzustreben und Uber & Co. Paroli zu bieten. Beide arbeiten mit einer mehrgleisigen Strategie: Mit DriveNow und Car2Go bieten sie 20.000 eigene Fahrzeuge an, wohl auch mit dem Ziel, die Mietkunden zu animieren, BMW- und Mercedes-Fahrzeuge zu erwerben. Mit den weiteren Marken und Beteiligungen moovel, Reachnow, mytaxi, Chauffeur Privé, Clever Taxi und Beat kommen beide Premium-Hersteller laut „Fortune Magazine“ auf über 140.000 Fahrer.

Seit einigen Jahren gibt es eine weitere Kooperation im Bereich Elektromobilität: BMW, Daimler, Bosch, Volkswagen, Siemens und Innogy haben das Joint-Venture Hubject gegründet. Ziel von Hubject ist es, das Laden eines Elektromobils so einfach wie möglich zu gestalten und dafür gemeinsam ein Ökosystem zu schaffen. Erst kürzlich startete Hubject geschäftliche Aktivitäten in den USA. Darüber hinaus bündeln Audi, BMW, Daimler, Continental und Bosch auch beim Kartendienst Here ihre Kräfte, um einen gemeinsamen Standard für eine wichtige Basistechnologie zu schaffen.

Deutschland denkt zu klein

Das alles sind Schritte in die richtige Richtung, allerdings herrscht immer noch das Klein-Klein. Das Mobilitäts-Joint-Venture von Daimler und BMW besteht aus acht verschiedenen Marken und kann damit auf Markenebene nur geringe Strahlkraft erzeugen – hier ist dringend eine umfassende Integration notwendig.

Darüber hinaus müssen die deutschen Hersteller lernen, in größeren Dimensionen zu denken. Große Plattform-Anbieter in den USA und China versammeln jeweils deutlich über hundert Millionen Nutzer. Über 150 Millionen Menschen nutzen zum Beispiel das digitale Fitness-Ökoystem von Under Armour. Die neue E-Commerce-Plattform Wise zählt über 300 Millionen Nutzer, Apple über 500 Millionen. BMWs und Daimlers Mobilitätspakt führt dagegen gerade einmal zu rund 30 Millionen gemeinsamen Kunden. Das ist ein Anfang, aber viel zu wenig, um eine Antwort auf die Entwicklung der Plattform-Ökonomie im Endverbraucher-Markt zu sein. Um langfristig eine Gatekeeper-Funktion einnehmen zu können, müssen deutsche Plattformen deutlich größere Nutzer-Zahlen vorweisen, also entschlossener den Prinzipien der Plattform-Ökonomie entsprechen.

Warum keine globalen Industriestandards schaffen ?

Bei der Entwicklung neuer digitaler Ökosysteme rund um die Mobilität sollten die Hersteller zudem enger kooperieren, indem sie verbindende Industriestandards schaffen. Sie werden in Zukunft und auch heute schon von allen Seiten angegriffen und müssen Milliardenbeträge nicht zuletzt in die Entwicklung der Elektromobilität investieren. Da würde es viel Geld und Ressourcen sparen, wenn zum Beispiel die diversen Connected Services gemeinsam entwickelt würden.

Aber nein, alle kochen alle ihr eigenes Süppchen und bauen separate Systeme. Dabei würden gemeinsame Standards zusätzlich einen Anreiz für Drittanbieter schaffen, attraktive Lösungen beizusteuern. Offenheit ist ein wichtiger Erfolgsfaktor in der Plattform-Ökonomie. Externe Anbieter haben zum Beispiel bereits 40.000 Skills für das noch recht junge Alexa-System von Amazon entwickelt. Warum sollten nicht Drittanbieter Connected Services für deutsche Automobilhersteller entwickeln? Sie werden es eher tun, wenn es einen Standard für alle gibt.

Der wichtige Zugang zum Endkunden

Der große Vorteil der Plattform-Anbieter liegt darin, dass sie die Schnittstelle zum Endkunden besetzt. Der private Fahrer in den USA könnte seine Dienste auch über andere Kanäle anbieten, er kommt aber faktisch an Uber – oder entsprechenden Konkurrenten – nicht mehr vorbei, weil er dort die größte Reichweite erzielt. Daher besteht die Gefahr, dass die großen Anbieter diesen Kundenzugang zukünftig monopolisieren und ihn für weitere Vermittlungsangebote einsetzen. Alle Hersteller sind deshalb gut beraten, den Kundenzugang über digitale Kanäle abzusichern oder überhaupt erst zu schaffen, denn das Händlernetz wird den direkten Draht zum Käufer in Zukunft nicht mehr garantieren.

Vom Kunden her denken

Es ist paradox: Die deutsche Autoindustrie ist stark geworden, indem sie sich kompromisslos auf das Thema Qualität eingeschworen hat. Jetzt wird ausgerechnet diese frühere Stärke – die Produktzentrierung – zum Problem. Denn obwohl schon lange von der Neuerfindung als Mobilitätsdienstleister die Rede ist: Inoffiziell vertrauen die Hersteller nach wie vor darauf, dass es reichen wird, die besten Autos zu bauen. Aber genau das ist der Irrtum. Die Umstellung auf Elektromobilität wird dafür sorgen, dass neue Player wie Tesla Marktanteile gewinnen, weil der „Vorsprung durch Technik“, den die deutschen Autohersteller im Benziner- und Diesel- Bereich haben, an Bedeutung verlieren. Hinzu kommt, dass es für insbesondere für jüngere Großstädter ohnehin nicht mehr darauf ankommt, das beste Auto zu fahren – sie wollen nur noch möglichst komfortabel von A nach B kommen.

In der Plattform-Ökonomie geht es darum, die alten Denkstrukturen zu verlassen und neue, kundenzentrierte Services zu entwickeln, mit denen man die Schnittstelle zum Kunden besetzen und sichern kann – optimal mitten im Alltag des Nutzers, als App auf seinem Smartphone.

Resümeé: Jetzt ist Risikobereitschaft gefragt

Auch in Zukunft werden die Autohersteller Geld damit verdienen, dass Menschen Pkws kaufen – wenn auch zunehmend mit Elektroantrieb. Aber der Markt der Automobilhersteller wird in den kommenden Jahren in einen Markt für Mobilitätsanbieter transformiert – daran besteht kein Zweifel. Services, die über den klassischen Pkw-Besitz hinausgehen, werden einen großen Teil der Wertschöpfung ausmachen. In diesem Bereich werden digitale Plattformen ihre Angebote dem Weltmarkt bereitstellen. Führend werden dabei die Anbieter sein, die die größtmögliche Zahl von Endkunden und Anbieter auf Ihren Plattformen versammeln. Und folgt man den Prinzipien der Plattform-Ökonomie, werden es wenige sein, die im globalen Markt für Endverbraucher bestehen können.

Die gegenwärtigen Anstrengungen deutscher Anbieter werden wahrscheinlich nicht reichen, um in diesem Konkurrenzkampf eine relevante Rolle zu spielen. Die branchenfremden digitalen Giganten entwickeln sich schneller und konsequenter, als man das vorausgesehen hat. Vielleicht werden die deutschen Unternehmen weiterhin die besten Autos bauen, die Frage ist nur: Was ist das in Zukunft noch wert? Deutsche Wirtschaftsführer müssen daher flexibler denken und bereit sein, radikale Wege zu gehen. Dazu werden Mega-Fusionen genauso gehören wie eine deutlich größere Risikobereitschaft für Investitionen in digitale Plattformen und Ökosysteme. Ohne mehr Mut, wird es nicht gehen.